Der Grillmeister (Inken B. Weiss)

Der Grillmeister

«Einer weniger!», murmelte Okke Hinrichsen und stellte den Verbrennungsofen an.

Er trat auf den Balkon und sah auf den Friedhof. Ein Pulk dunkel gekleideter Menschen strömte am Krematorium vorbei in Richtung Kapelle, gefolgt vom Pfarrer, einem hoch gewachsenen Mann, ganz in Schwarz, der wie jedes Mal den Schritt verhielt und einen langen Moment zu ihm nach oben sah.

«Wer brennt, verliert seine Seele!», rief er Okke zu. «Du solltest dir eine andere Arbeit suchen!»

«Fahr zur Hölle!», schrie Okke und spuckte aus. Er konnte katholische Priester grundsätzlich nicht leiden, und diesen Lackaffen verabscheute er ganz besonders: Mats Hinrichsen, seinen dämlichen Bruder! Der schlaksige Kirchenmann bekreuzigte sich ironisch, schüttelte den Kopf und setzte seinen Weg in der Dämmerung unter den alten Friedhofsbäumen fort.

Okke blickte ihm nach und konnte seinen Hass kaum bändigen. Warum konnte Mats ihn nicht in Ruhe lassen? Er brauchte keine Ratschläge von seinem Bruder! Es musste ein Ende haben mit den herablassenden Bemerkungen! Sorgfältig betrachtete er die Werkzeuge, mit denen er für gewöhnlich die Knochen der Toten zerkleinerte, bevor sie ihren Weg in die grosse Knochenmühle fanden. Ein robuster Hammer hatte es ihm besonders angetan: Er lag gut in der Hand und vermochte selbst die stärksten Knochen mit Leichtigkeit zu zerschlagen. Dann heizte Okke den zweiten Ofen vor, dessen Wärme sich wohlig in den Räumlichkeiten ausbreitete.

Eine Stunde später, als Pfarrer Hinrichsen in der Dunkelheit wie üblich nach der Zeremonie vor den Trauernden in Richtung Friedhofsausgang floh, trat Okke aus dem Schatten des Krematoriums.

«Guten Abend, Mats», sprach er ihn an. «Ich muss dich etwas fragen!» und winkte ihm lächelnd, näherzutreten. Der Priester hielt erstaunt inne und wandte sich ihm zu. «Komm kurz herein!», bat Okke und machte einen Schritt zurück ins Innere. Kalt erwischt von der unerwarteten Freundlichkeit seines Bruders trat Mats ein. Der Schlag traf ihn direkt zwischen die Augen und zerschmetterte den gesamten vorderen Schädel. Er fiel um wie ein Baum.

Okke fing den Sterbenden auf, zog den Hammer aus dem Kopf, zerklopfte zur Sicherheit noch die hintere Schädelplatte und schleifte den Reglosen zu den Verbrennungsöfen. Er schloss die Tür, löschte das Licht und wuchtete den dünnen Gottesmann kraftvoll auf die ausgefahrene Verbrennungsschiene.

«Gute Fahrt, Bruderherz!», sagte er leise, bevor er den Ofen öffnete und den zerbrochenen Kleriker den Flammen übergab. Dann ging er zum Fenster, und die Dunkelheit senkte sich herab wie ein Schwert. «Wer brennt, verliert seine Seele!», flüsterte Okke. Er stand am Fenster und sah auf den Friedhof.

Er überlegte ernsthaft, sich eine andere Arbeit zu suchen.

*Ende*                                                                                                            Inken B. Weiss

3Kommentare

  • Kurt Geisler
    25. Juni 2021

    Kain und Abel ins 21. Jahrhundert transportiert: sehr cool.

  • Cornelia Leymann
    30. Juni 2021

    Mord ist immer eine gute Sache und innerhalb der Verwandtschaft sind Motive nicht fern. Wie schön, wenn man einen Beruf hat, der die Leichenentsorgung so herrlich problemlos gestaltet. Als wirklich böser Krimi-Autor hätte man sich dann natürlich einen Schluss gewünscht, in dem der Mörder vor zig trauernden Zeugen im Gewandt des Pfarrers den Trauerzug weiter geleitet und schließlich pumperlgesund das Auto bestiegen hätte, um als Pfarrer auf Nimmerwiedersehen zu entschwinden. Gut, dass Inken nicht zu diesen bösen Autoren zählt.

  • Kurt Geisler
    1. Juli 2021

    Cornelia Leymann legt natürlich immer noch einen drauf, aber es war ja lediglich eine Kurzgeschichte. Richtig böse kann Inken aber auch: in ihrem Krimi „Der Eisprinz“.

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