Best of Lesungen (Kurt Geisler)
Autor:innen lesen. So nennt man es, wenn sie vorlesen. Junge Leute sagen auch: performen. Dabei machen sie diese und jene Erfahrungen, auch solche, die weder in die eine, noch in die andere Kategorie passen. Was ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist, erzählen sie hier. Kurt Geisler macht den Anfang.
Kurt Geisler, liest, schreibt und er gibt an, äh, heraus. (s.o.)
Das Publikum klatschte am Ende wie bei allen Lesungen höflich und ich stand auf und verbeugte mich wie immer in meinem schwarzen Anzug. Dass sich in meiner Poritze Schweiß vor lauter Aufregung angesammelt hatte, war zu meiner Erleichterung dank der dunklen Farbe der Hose unbemerkt geblieben: Arschwasser. Schnellstmöglich wollte ich nur noch weg.
Denn es war eine überaus schweißtreibende Lesung im modernen Hafenhotel Holtenau. Auch wenn der Ausblick aus dem lang gestreckten Veranstaltungsraum auf die bewegte Kieler Förde prächtig war, so konnte ich aus unerfindlichen Gründen den Strahlen der tiefstehenden Nachmittagssonne nicht entkommen. Lesung mit Kaffee und Kuchen satt für zehn Euro, gesponsort von der Kieler Rundschau, das konnte eigentlich nicht gut gehen. So kam es auch: Mehr als hundert Gäste hatten allein im Vorverkauf Karten erworben.
Das überaus zahlreich erschienene Publikum ließ es sich natürlich nicht nehmen, die gesamte Tortenpalette bei hohem Geräuschpegel durchzuprobieren. So schaffte es der Moderator der Veranstaltung erst nach einer halben Stunde, die für meine Lesung notwendige Ruhe herzustellen. Tief holte ich Luft. Aber kaum hatte ich den ersten Satz verlesen, da fuhr eine ältere Person an einem der hinteren Tische erbost hoch.
„Herr Geisler. Hier ist kein Wort zu verstehen.“
Ich las daraufhin den ersten Satz aus meinem allerneuestem Krimi ein zweites Mal, nun aber mit deutlich lauterer Stimme. Aus der ersten Reihe flüsterte mir erschrocken eine jüngere Frau zu. „Haben wir Ihnen etwas getan oder warum schreien Sie uns denn so an?“
Mir wurde klar, dass die heutige Lesung bei der nicht zu bändigenden Menschenmenge die Quadratur des Kreises werden würde. Der Moderator fuchtelte mir aus sicherer Entfernung ein Megaphon als Hilfe zu. Da wir aber nicht auf einer Sportveranstaltung waren, wechselte ich kurzerhand meinen Platz in die Mitte des Publikums. Sofort keimte Unmut aus einem abgesenkten Bereich des Veranstaltungssaals auf, das normalerweise als Restaurantbereich genutzt wurde.
„Wir können nichts sehen.“
Was blieb mir übrig, als im Stehen zu lesen. Ständig kreiste mir der Gedanke durch den Kopf, warum der Veranstalter die Publikumsmenge nicht frühzeitig begrenzt hatte. So war das im Vorfeld eigentlich abgesprochen.
Aber die Versorgung des Publikums mit Kaffee und Kuchen war für das Restaurant offenbar wichtiger als die Lesung eines Autors. An der unpassenden Stelle, als gerade eine vom Windrad geköpfte Leiche gefunden wurde, unterbrach der Moderator mit jovialer Stimme die Lesung und lud zum Nachfassen am Tortenbufett ein. Die Meute ließ sich nicht lange bitten und umzingelte die Sahnestücke, ohne dass ich den letzten Absatz zu Ende lesen konnte. Dafür näherte sich der Moderator der Veranstaltung mit einem Getränk.
„Na, zufrieden? Das ist für die Stimme.“
Ich war enttäuscht. „Ein Desaster.“
Mit großen Augen sah mich der Moderator an. „Wieso, die Leute sind doch zufrieden?“
„Die interessiert überhaupt nicht, was ich lese. Die wollen nur sehen und gesehen werden.“
Der Moderator schmunzelte. „Das ist sonntags in der Kirche doch genauso. Hier gibt es wenigstens neben der Predigt noch Kaffee und Kuchen.“
Auch wenn es mich hart traf, dass ich offenbar nur der Bespaßer war, so musste ich dem Mann insgeheim Recht geben. Ich war nur das Mittel zum Zweck. Volles Haus, zufriedene Gäste. Die würden hier öfter einmal zum Kaffee einkehren. Kurzerhand entschied ich mich, nach der Pause lustige und kürzere Passagen zu verlesen und mit Anekdoten anzureichern. Irgendwann war es schließlich durchgestanden, und der Veranstalter eilte leicht schwitzend auf mich zu.
„Vielen Dank, Herr Geisler. Sehr eindrucksvoll. Das Publikum hat aber sicher noch die eine oder andere Frage an Sie.“
Ich nickte notgedrungen, denn das Ritual kannte ich nur zu gut. Nachsitzen. Schnell meldete sich die erste Hand mit einer altbekannten Frage. Meine Antwort leierte ich wie fast immer nach Lesungen herunter.
„Nein, ein Buch schreiben ist überhaupt nicht schwer. Man muss nur einmal anfangen, und irgendwann sollte man fertig werden.“
Wie immer ging ein erstauntes Raunen durch das Publikum. Die meisten Zuschauer hatten mit Sicherheit schon Schreibversuche gestartet, aber das Durchhalten neben den anderen Anforderungen des Alltags erfordert eben sehr viel Energie. Dass danach erst die eigentlich für viele unüberwindbare Hürde auftaucht, einen passenden Verlag zu finden, das hatte ich wie immer verschwiegen. Man will ja niemanden entmutigen. Und dass die unerlässliche fruchtbare Arbeit mit einem Lektorat erheblich schweißtreibender als das Schreiben von Büchern ist, das würde mir vom heutigen Kuchen mampfenden Publikum sowieso niemand abnehmen.
Nein, und natürlich gibt es die Handlungspersonen des Romans nicht in der Realität.
Ja, an allen Orten meiner Krimis habe ich sorgfältig recherchiert.
Nein, mein Wissen habe ich nicht aus Wikipedia.
Ja, natürlich liegt statistisch gesehen die Mordquote in allen Kriminalromanen, die in Schleswig-Holstein spielen, erheblich über der in Mexico-City und den anderen Sündenpfuhlen dieser Welt.
Jein, nicht alles in meinen Krimis und Erzählungen ist erfunden.
Dann war der Spuk zum Glück endlich irgendwann vorbei. Als der letzte Zuhörer gegangen war, stand ich fix und fertig auf und strebte mit trockenem Hals den Bartresen an. Der war zu meinem Erstaunen allerdings mit bekannten Gesichtern besetzt: mit meinen mir mehr als vertrauten Romanfiguren Kommissar Hansen, Helge Stuhr und Olli Heldt. Es war ein wenig unwirklich.
Dennoch begrüßte ich sie freundlich und orderte sicherheitshalber bei der Bedienung für alle ein Bierchen, um keine schlechte Stimmung aufkommen zu lassen. Ausgerechnet mein Kommissar Hansen wagte sich nun vor.
„Du gibst einen aus, Geisler? Für uns? Das ist ja mal ein feiner Zug.“
Olli mischte sich ein. „Ja. Aber er verdient ja auch gut an uns. Wobei er sich eigentlich nur über uns lustig macht.“
Stuhr legte nach. „Coram publico.“
Als Kommissar Hansen die Stirn runzelte, ergriff ich mein Glas und prostete ihnen zu. „Vor Publikum. Tja, jetzt seid ihr berühmt. Damit müsst ihr von nun an leben.“
Die Drei wuchsen vor Stolz innerhalb weniger Sekunden fast um einen halben Zentimeter. „Prost, Geisler.“
Alle schienen eigentlich zufrieden, bis ausgerechnet Stuhr seine stramme Körperhaltung aufgab. „Aber genau genommen kennt uns ja keiner vom Publikum. Nur, was du über uns zusammenschreibst. Das ist irgendwie ungerecht.“
Ich tat den Einwand kurzerhand mit einer kleinen Handbewegung ab. „Das ganze Leben ist ungerecht.“
Hansen legte aber nach. „Wir holen die Kohlen für dich aus dem Feuer und du sahnst ab.“
Es fiel mir nicht schwer, meinen Kommissar einzunorden. „Ja, soll ich dich faulen Sack und deine Helferlein bei meiner nächsten Lesung dem Publikum vorstellen? Das mache ich gerne, aber dann müsst ihr euch vorher auch zu erkennen geben.“
Hansen und Stuhr winkten sofort kategorisch ab. Olli beschäftigte sowieso etwas anderes.
„Sag mal, Kurt. Fünf Krimis veröffentlicht, etliche Kurzgeschichten geschrieben und viele Lesungen gehalten. Du musst förmlich im Geld schwimmen.“
Das ging die Drei überhaupt nichts an, zumal diese Spielfiguren in meinen Krimis längst nicht immer so agierten, wie ich mir das wünschte. Wortlos bestellte ich mit Fingerschnippen eine weitere Runde Bier, die von der flotten Bedienung prompt geliefert wurde. Aber schon, als ich den Dreien mit der neuen Lage Bier zuprostete, wagte sich Olli erneut aus der Deckung.
„Nun sag schon, Geisler. Wo hast du das ganze Geld gebunkert?“
Ausgerechnet Stuhr setzte sofort nach. „Olli meint den Harry-Potter-Effekt. Du musst mit Tantiemen förmlich zugeschüttet worden sein.“
Ah, da wehte der Wind also her. Zum Spaß ließ ich mich auf das Spielchen ein. „Ja klar, meine Bude ist mit Geldscheinstapeln vollgestopft. Ich kann mich im Wohnzimmer kaum noch bewegen.“
Drei zufrieden grinsende Gesichter bestätigten mir, endlich den richtigen Nerv getroffen zu haben. So legte ich nach. „In meinem Bad ist jetzt übrigens eine Cent-Dusche eingebaut, damit ich mich unter dem Geprassel der Kupfermünzen vom Banknotenzählen im Wohnzimmer erholen kann.“
Wieder fröhliche Gesichter. Diesmal bohrte Olli nach.
„Dann kannst du zu Weihnachten bei dir aus Platzgründen nicht einmal einen Tannenbaum aufstellen. Richtig?“
Die Flunkerei ging weiter. „Quatsch, ich musste letztes Jahr sogar Leiharbeiter aus Bangladesch einstellen, die bis Weihnachten mühsam die Metallstreifen aus den Banknoten lösen mussten, um meinen Baum mit Lametta zu schmücken. Dann kann das Restpapier der Banknoten weg und ich habe wieder genug Platz für den Baum. Was soll ich ansonsten mit dem ganzen Geld anfangen? Etwa Negativzinsen bei der Bank zahlen?“
Die Stimmung war gut, wieder lachten die Drei. Aber ich ahnte, dass ich mich ohne eine dritte Runde kaum aus dem Staube machen konnte. Also orderte ich erneut. Olli mischte sich nun nörgelnd ins Gespräch ein. „Weltliteratur ist es aber auch nicht gerade, was du verzapfst, oder?“
Das kam mir auch schon einmal zu Ohren, hatte aber eine Antwort parat. „Bei meiner letzten Lesung habe ich eine Musikerin kennengelernt, die mir die Augen hat geöffnet hat. Sie sagte: Mit vier Griffen auf der Gitarre bekommst du 10.000 Zuschauer, aber mit 10.000 Griffen vielleicht nur vier Zuschauer. Was ist dir lieber?“
Olli schien verwirrt. „Ja, und was ist dir nun lieber?“
„Ein volles Haus. Wie heute. Auch wenn es manchmal weh tut. Besser als eine leere Hütte.“
Die freundliche Bedienung mischte sich nun ins Gespräch mit einem Kassenzettel.
„Die Getränke gehen selbstverständlich auf das Haus. Bitte hier unterschreiben. Für mich bitte aber eine freundliche Widmung in ihrem Buch, okay? Habe ich gerade gekauft“
Erwartungsfroh hielt sie mir mein Buch entgegen und ich konnte endlich mit meinen Romanfiguren Ernst machen. „Die Unterschrift von mir? Oder lieber von meinen Romanfiguren Kommissar Hansen, Helge Stuhr oder Oliver Heldt.“
Während seine drei Spielfiguren sofort abwehrend die Hände hoben, lachte sich die Kellnerin scheckig.
„Aber, Herr Geisler. Ich habe vorhin die Lesung gut verfolgen können, Ihre Stimme war ja laut genug. Die Figuren in Ihren Krimis sind wahre Helden, aber nicht mit Ihren Bekannten hier zu vergleichen. Wenngleich die Herren sehr nett waren und mir hier an der Bar während Ihrer Lesung Beistand geleistet haben. Würde sie das bitte quittieren? 27 Biere insgesamt und neun Schnäpse. Ich brauche nur Ihre Unterschrift.“
Selbstverständlich unterschrieb ich. Aber erst, als die Kellnerin weg war, wandte ich mich süffisant meinen Spielfiguren zu, die schuldbewusst ihr Haupt gesenkt hatten.
„27 Bierchen, neun Kurze. Hut ab.“
Olli hielt als erster dagegen. „Ja, und? Es war so heiß während der Lesung und die Bedienung fand dich sehr sympathisch. Wir haben natürlich nicht verraten, dass wir dich auch ganz anders kennen.“
Stuhr zog ein Fazit. „Zumindest scheinst du aber hier bekannt zu sein. Eine lokale Größe also. Zum Pulitzer-Preis wird es kaum reichen.“
Da wehte jetzt also der Wind her. Bestimmt hielt ich dagegen. „Ich? Nein, ihr seid berühmt. Auf weit mehr als 3000 Seiten habe ich euch in meinen Krimis und Kurzgeschichten seit Jahren nach bestem Wissen und Gewissen beschrieben. Über mich als Autor gibt es lediglich einen klitzekleinen Absatz auf einer der Buchinnenseiten.“
Kommissar Hansen preschte jetzt neugierig vor. „Dein neues Buch. Wie wird das heißen?“
Da drei Buchprojekte in meiner Schublade schlummerten, hielt ich mich bedeckt. „Titelschutz, du weißt?“
Der Kommissar nickte verständnisvoll. „Klar, schließlich bin ich auch von Amts wegen zur Verschwiegenheit verpflichtet.“
Schnell signierte ich noch meinen Krimi für die freundliche Bedienung. Wie ich nach Hause gekommen war, das entzog sich allerdings meiner Kenntnis.
Bis sich im Halbschlaf weiche Lippen auf meinen Mund senkten. „Kurt, bitte aufstehen. Ein wunderschöner Tag wird das heute für dich. Husch.“ Es war die Stimme meiner Romanfigur Jenny Muschelfang, die bisher noch jeden Krimi von mir aufgemischt hat.
Erst als sie sich auf leisen Sohlen entfernt hatte, fuhr ich schweißgebadet in meinem Bett hoch. Ich musste geträumt haben, denn es war die gleißende Morgensonne, die mir im Schlafzimmer Schweißperlen auf die Stirn trieb. Mühsam quälte ich mich hoch und trat erschöpft den Weg zum Kaffeeautomaten an. Halbwegs blind bekam ich die Maschine erfolgreich in Gang und nach dem ersten Schluck des heißen Gebräus öffneten sich auch endlich meine Augenlider. Der Anblick auf den dahinter hängenden Terminkalender riss mir allerdings die Augen auf: Hafenhotel Holtenau, Lesung bei Kaffee und Kuchen.
Dann klingelte schon das Smartphone. Es war der Moderator der Veranstaltung. „Moin Kurt, ich hoffe du bist ausgeschlafen. Es wird heute ein wenig voller als geplant. So um die 160 Tickets sind verkauft worden, wir haben jetzt aber gestoppt.“
Mir rutschte ein Fluch über die Lippen. „Oh, Scheiße.“
„Was ist los, Kurt? Das ist gut für dich, du wirst immer bekannter. Wenn du noch Promis für die Gästeliste hast, die umsonst eintreten dürfen, dann schicke mir schnell die Namen. Mehr als maximal vier Personen können wir aber logistisch nicht mehr verkraften. Wir treffen uns nachher um 15 Uhr vor dem Eingang. Tschüssing.“
Das war aber keine schwierige Entscheidung für mich. Wen sollte ich schon auf die Gästeliste setzen außer Jenny Muschelfang, Kommissar Hansen, Helge Stuhr und Olli Heldt. Wenn ich denn heute Nachmittag in meiner Lesung in Kiel-Holtenau schon wie im Traum coram publico sterben sollte, dann wenigstens bitte nicht ohne meine vertrauten Romanfiguren.