Am See

Am See (von Inken B. Weiss)

 «Kannst du gut schwimmen?», fragte er wie beiläufig das Mädchen, während sie in der Dämmerung Richtung See gingen.

«Überhaupt nicht», murmelte die Kleine und wandte das Gesicht ab. Seine hellen Augen ruhten schweigend auf ihr.

«Das macht doch nichts», flüsterte er. «Vielleicht bringe ich es dir bei Gelegenheit mal bei!» Er lächelte und legte den Arm um ihre schmale Hüfte.

Sie lehnte sich an ihn, als sie den Wald betraten. Die Bäume beugten sich über das umschlungene Paar, und der Boden verschluckte ihre Schritte. Mücken tanzten, als sie ans Seeufer kamen, und Wellen brachen mit einem zarten Geräusch. Das alte Ruderboot lag im Schilf. Vertäut an einem kleinen Steg, kaum sichtbar in der einbrechenden Dunkelheit.

Der Mann blieb stehen. Sah das Mädchen an: «Hast du gar keine Angst?», fragte er, drückte es sacht gegen einen Baum und küsste es. «Nein!», lachte die Kleine, und der Wind fuhr warnend in ihre langen, schwarzen Haare.

«Vielleicht solltest du», meinte der Mann, und seine Augen leuchteten kalt.

Er ließ das Mädchen los, suchte Steine am Ufer und warf sie in hohem Bogen weit in den See. Tief und schwarz, dachte er. So wie meine Seele.

Er ging zurück, griff die Kleine, die an einem Baum lehnte, und trug sie wortlos bis zum Boot. Wie stark er ist, dachte sie. Er streifte ihre Schuhe ab und setzte sie hinein. Sprang hinterher. Mit einem Ruder stieß er sich vom Grund ab, bis das Boot aus dem Schilf glitt.

Der Mond malte eine Bahn auf das Wasser, schimmernd und fahl. Wie im Märchen, staunte das Mädchen, saß auf der Ruderbank und ließ die Beine über Bord hängen. Es bemerkte nicht, dass sich der Boden des Bootes mit Wasser füllte. Erst wenig. Dann mehr. Und immer mehr.

Der Mann ruderte mit großen Schlägen bis in die Mitte des Sees. Er war ganz ruhig und fühlte die Macht. Sein Mund, ein Strich. Seine Augen, weisse Kiesel. Er nahm die Ruder und warf sie weit in den See. Das Mädchen setzte sich auf.

«Bald musst du schwimmen!», flüsterte er und sprang aus dem Boot. Die Kleine erstarrte und blickte ihm nach. Sie weinte nicht. Sie rief nicht. Ihre Füsse standen im Wasser.

Sie sah dem Mann hinterher, der in Richtung Land schwamm. Der immer kleiner und kleiner wurde. Ihr Herz klopfte laut, und die Wellen schlugen gleichgültig gegen das alte, sinkende Boot.

*Ende*

Inken B. Weiss, 2021

Inken B. Weiss

Inken B. Weiss ist in Norddeutschland, in Kiel an der Ostsee, aufgewachsen. Nach einer musikalisch geprägten Kindheit studierte sie zwei Jahre Musik, danach Rechtswissenschaften in Göttingen und Kiel. Als Referendarin arbeitete sie bei Gericht, in Rechtsanwaltskanzleien und bei der Kriminalpolizei. Nach dem 2. Juristischen Staatsexamen war sie vorwiegend journalistisch tätig. Heute lebt sie in der französischen Schweiz.

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