Fahrradwege werden total überbewertet

Cornelia Leymann ist 70, Ingenieur und arbeitete in einem Großunternehmen als Softwaretester, bis sie 2004 zusammen mit 700 Kollegen „abgewickelt“ wurde. Seitdem widmet sie sich ihren Hobbys Bridge, Malen und vor allem dem Schreiben. Sie ist verwitwet, Besitzer eines Sohns und lebt mit ihrem Lebensrestgefährten in einem Reihenhaus am Kieler Stadtrand.

Cornelia Leymann

Karl kratze sich am Kopf und überlegte. Wenn er jetzt noch ein bisschen am Lenker schob, konnte es gehen. Ein kurzer Schubser, na bitte. Das Fahrrad war super im Kofferraum verstaut. Er wollte gerade wieder auf den Fahrersitz klettern, da kam der Mann vorbei.

„Wollen Sie sooo losfahren?“, fragte er und sah missbilligend auf das Vorderrad, das aus der geöffneten Kofferraumhaube hervorsah. „Da muss ein rotes Fähnchen hinten dran.“

Wo der Mann recht hatte, hatte er Recht. Karl tauchte in die Tiefen seiner hinteren Sitzreihe und kam mit einem roten Strümpfchen, das Mäxchen sich wohl bei seiner letzten Fahrt in den Kindergarten heimlich ausgezogen hatte, wieder zum Vorschein. „Könnte das gehen“, fragte er den Mann.

„Nein“, sagte der Mann, „das ist kein Fähnchen, das ist ein Strumpf.“

„Mist“ sagte Karl. Er hätte nicht gedacht, dass die Straßenverkehrsordnung in Sachen Fähnchen so pingelig war. „Wo soll ich denn jetzt ein Fähnchen herkriegen?“, fragte er den Mann.

„Ich weiß nicht, ob Sie es wussten, aber bei amazon gibt es sehr schöne Exemplare“, sagte der Mann und holte sein Handy raus. „Sehen Sie mal hier.“ Er tippte auf das Display und hielt es Karl unter die Nase.

„Moment“, sagte Karl und kramte in seiner Jackentasche. Natürlich, die Brille war in der Manteltasche und der Mantel lag im Auto.

„Das Fähnchen ist ja blau“, sagte Karl, als er die Brille endlich gefunden hatte.

Der Mann nickte: „Dafür ist es billiger als die roten. Aber wenn Sie unbedingt ein rotes haben wollen …“ Der Mann wischte auf dem Display rum. „Sie können natürlich noch mal schaun, ob es nicht woanders günstiger angeboten wird.“

„Wissen Sie was“, sagte Karl und sah auf die Uhr, „ich glaube, ich nehme doch das Strümpfchen und gut dem Ding.“

„Wenn Sie meinen ….“, sagte der Mann und seine Stirn umwölkte sich. „Die Polizei ist in so was sehr genau.“

Gerade als Karl wieder in sein Auto steigen wollte, kam eine Frau dazu. „Sie versperren mit Ihrer Kiste den ganzen Radweg“, schimpfte sie. Sie zog einen Einkaufstrolli hinter sich her und hatte Karls Wagen als einen guten Anlass erkannt, eine kleine Verschnaufpause einzulegen.

„Ich bin gleich weg“, sagte Karl, „ich muss nur noch das Strümpfchen ….“

„Das sagen alle und nachher müssen die Radfahrer auf die Straße ausweichen und schon ist die Katastrophe da.“

„Welche Katastrophe?“, fragte Karl.

Ein Mann mit Leine gesellte sich zu ihnen; der dazugehörige Hund hatte am letzten Baum noch zu tun. Das ist das Schöne an solchen Ausroll-Leinen. Herrchen und Hund können jeder eigene Interessen verfolgen. Dieses Grüppchen erschien dem Mann offensichtlich interessanter als ein pinkelnder Hund.

„Ha, natürlich! Welche Katastrophe, fragt er“, wandte sich die Frau an den Mann mit der Leine. „Solche Typen kenne ich. Fahren dicke Autos und wenn dann die Klimakatastrophe da ist, wollen sie es nicht gewesen sein.“ „Haben Sie eigentlich eine Umweltplakette?“, wandte sie sich wieder an Karl.

„Wie bitte?“, fragte Karl. Er war ein wenig abgelenkt gewesen, denn auch der Hund hatte inzwischen seine Interessen verlagert. Er war Schwanz wedelnd angehopst gekommen, hatte Herrchen nach dieser langen Trennung herzlich begrüßt und dann den Trolli der Frau in sein Revier einbezogen.

„Sagen Sie mal: Hat Ihr dreckiger Köter eben gegen meinen Trolli gepisst?“, keifte die Frau, jetzt wieder in Richtung Hundebesitzer gewandt.

„Nein“, sagte Herrchen.

„Nein?“ Die Frau hatte die Stimmlage um eine Oktave erhöht. „Mein Trolli ist ganz nass.“

„Mein Bully ist nicht dreckig“, sagte Herrchen.

„Geschieht ihnen ganz recht“, schaltete sich der Kenner der Verkehrsordnung in das Gespräch ein. „Die tragen sowieso alle keinen Helm. Da kann sonst was passieren. Unverantwortlich.“

„Mein Hund trägt nie einen Helm“, sagte Herrchen.

„Wenn er auf den Radweg pinkelt, muss er einen Helm tragen“, beharrte der Kenner.

„Bully hat nur an den Trolli der Frau gepinkelt“, verteidigte sich Herrchen.

„Aha“, trumpfte die Frau auf, „nun geben Sie es also zu! Das gibt eine fette Anzeige, das schwöre ich Ihnen.“

„Vielleicht kann man sich gütlich einigen“, versuchte Karl zu beschwichtigen. „Bei amazon gibt es sicher sehr kleidsame Helme für Hunde.“

„War ja klar“, schimpfte die Frau. „Erst mit seiner Dreckschleuder die Umwelt versauen und dann mit amazon die kleinen Geschäfte fertig machen. Das haben wir gerne.“

„Wenn Sie mich dann nicht mehr brauchen“, begann Karl, „dann würde ich jetzt vielleicht gerne weiterfahren … äh …. wenn nichts mehr ist, meine ich …“

„Sie bleiben hier. Ich brauche Sie als Zeuge. Der Hund hat mir auf die Eier geschifft“, sagte die Frau bestimmt.

„Ich weiß gar nicht, wo Ihre Eier sind“, versuchte Karl, sich aus der Affäre zu ziehen.

„Ich weiß nicht, ob Sie es wussten“, sagte der Kenner der Straßenverkehrsordnung zu der Frau und wiegte bedächtig seinen Kopf. „Die Eier werden von dem Huhn aus dem Arschloch gepresst. Mag man sich gar nicht vorstellen. Dagegen ist so ein bisschen Hundepipi auf den Eiern doch vergleichsweise harmlos.“

„Das ist ja mal wieder typisch für euch Männer“, keifte die Frau. „Gegen eine arme, wehrlose Frau halten sie alle zusammen. Immer drauf, immer drauf.“

„Nie“, versicherte Herrchen, „niemals würde ich auf Sie drauf.“

„Natürlich“, wetterte die Frau, „Ihnen sind meine Eier egal. Wenn Sie bloß mit Ihrem Köter die Straßen verdrecken können. Und ich muss das alles wieder sauber machen – mit meinen Steuergeldern.“

„Wahrscheinlich wissen Sie es nicht“, sagte der Kenner zu dem Hundebesitzer, „aber ab einem Stockmaß von 60 Zentimetern herrscht in der Stadt Maulkorbzwang.“

„Das wird ja immer schöner“, empörte sich die Frau, „erst überall hinkacken, dann meine Eier versauen und nun auch noch ohne Maulkorb harmlose Frauen mit Trolli gefährden.“

„Mit Maulkorb hätte Bully auch gegen Ihren Trolli gepinkelt“, nahm Herrchen seinen Hund in Schutz.

„Wenn dann nichts mehr wäre, führe ich mal wieder …“, sagte Karl.

Der Hund hatte sich inzwischen durch die kleine Gruppe geschnüffelt, den nächsten Baum umrundet und nach der langen Trennung erneut liebevollst sein Herrchen begrüßt.

Karl konnte sich als erster aus der alles umschlingenden Hundeleine befreien, setzte sich in seinen Wagen und fuhr los. Im Rückspiegel sah er noch eine ganze Weile den drei anderen zu, wie sie sich als moderne Version der Laokoongruppe aus den Verstrickungen der Leine zu winden versuchten.

Ein Radfahrer wechselte schimpfend vom Radweg auf die Fahrbahn. (von: Cornelia Leymann)

Kommentar schreiben