Hazard

Hazard

(Die Außenseiter)

von Henning Schöttke

 

»I swear I left her by the river«

Hazard – Richard Marx

 

»Tot?«, flüsterte Marie und probierte ihr einstudiertes erstauntes Lächeln aus. »Wie kommst du denn darauf?«

Sie hörte Schritte hinter sich. Die Wirtin kam mit Maries Mittagessen, dem Sauerfleisch mit Bratkartoffeln und einer Cola, stellte beides vor ihr ab und wünschte »Guten Appetit«. Marie sah ihr über die Schulter nach, wie sie zum Tresen zurückging.

Sie wickelte ihr Besteck aus der Serviette und aß eine der kleinen Gewürzgurken. Hier im Landgasthof von Hazard gab es offenbar neue Pächter. Das war gut. Dann kannten diese Leute sie nicht. Marie hatte sich ein Zimmer mit Vollverpflegung genommen. Zunächst mal für drei Tage.

Als Marie vorhin ihre Personalien angegeben hatte, hatte die Wirtin mit keiner Miene zu erkennen gegeben, dass ihr der Name Marie Schmidt etwas sagte. Marie hatte ihre Sachen auf ihr Zimmer gebracht und saß jetzt mit dem Rücken zum Tresen in der am Weitesten vom Eingang entfernten Ecke.

Sie nahm Bratkartoffeln auf die Gabel, sah durch das Fenster auf die Dorfstraße und dachte: Irgendwann hauen wir ab aus diesem Kaff. Das war damals zwischen Jan und ihr ein halb lustig gemeinter, immer wiederkehrender Spruch gewesen. Sie musste trotz ihres schlechten Gewissens grinsen. Wie Jan jetzt wohl aussah? Ob er eine Freundin hatte? Sie würde ihm das so von Herzen wünschen. Jan war damals ein wenig in sie verliebt gewesen. Und sie hatte ihn auch sehr gemocht. Aber nicht so.

Sie kaute bedächtig und blickte im Raum umher. Die altmodischen Bilder waren von den Wänden verschwunden, und zwischen den Tischen gab es jetzt halbhohe Trennwände. Sonst war alles wie früher. Das selbe Mobiliar aus dunklem Holz, die selben tief über den Tischen hängenden Lampen.

Erst auf der Fahrt hierher hatte Marie sich einen Grund für ihr damaliges Verschwinden ausgedacht. Liebe. Das war zwar nicht besonders originell, erschien ihr aber im Vergleich zu anderen Möglichkeiten – Entführung, Gedächtnisverlust – am plausibelsten. Wenn sie davon erzählte, würde sie nicht zu sehr ins Detail gehen.

Am liebsten wäre sie am Nachmittag als Erstes zu Jan gegangen. Aber sie musste wohl bei Tante Inge anfangen. Auch wenn es unmöglich war, ihrer Tante den wahren Grund für ihr Weggehen klarzumachen.

Jans Mutter war nach Hazard gekommen, als er sieben war. Von Anfang an hatten die Leute im Dorf Vorurteile gegen ihn gehabt, wie Marie sich noch gut erinnern konnte. Der Junge ist nicht ganz richtig im Kopf, hieß es. Irgendwann hatte das Maries Neugier geweckt, und so hatten Jan und sie einander – drei Jahre vor Maries Verschwinden – richtig kennengelernt. Marie war damals siebzehn gewesen und Jan fünfzehn. Sie war die Erste, die über all die Gerüchte und Lügen hinweggehört hatte. Die Erste, die den Mann in ihm gesehen hatte.

Auf ihre Weise waren sie beide Außenseiter gewesen. An lauen und endlos langen Sommerabenden waren sie am Fluss spazieren gegangen. Sie hatten philosophiert und von Freiheit geträumt, hatten mit seinem kleinen altmodischen Rekorder Musik gehört, und Marie hatte die Last, die auf ihr lag, vergessen können. Jan war ein geistig schlichter, aber freundlicher Junge. Einmal allerdings hatte sie erlebt, wie er sich fast auf einen Kerl, der sie blöd angemacht hatte, gestürzt hätte. Wie er die Fäuste ballte und seine Augen Funken sprühten. Nein, ihm hatte sie nichts von Harm Petersen sagen können. Jan hätte ihn umgebracht.

Sie erinnerte sich noch an das Gleißen der untergehenden Sonne auf dem Fluss, an das leise Plätschern der Wellen, den Geruch des Sommers und sogar noch an die weiche Luft auf den Oberarmen. Wie sie das geliebt hatte.

»Irgendwann hauen wir ab aus diesem Kaff«, sagte sie dann. Und eines Tages hatte sie das wahrgemacht. Hatte sich mitten in der Nacht aus dem Staub gemacht.

Sie schob ein Stück Fleisch in den Mund und kaute bedächtig. Zehn Jahre war das jetzt her. Ihre Abscheu, und das Gefühl drohender Gefahr waren immer schlimmer geworden, und schließlich war es ihr vorgekommen, als stünde sie auf ganz dünnem Eis.

Der Klang einer ihr bekannten Stimme riss sie aus ihren Gedanken. War das …? Sie sah vorsichtig über die Schulter. Ja, am Tresen stand Gabi! Ihre damals beste Freundin.

So hatte Marie sich das nicht vorgestellt. Sie war sicher, dass ihr Verschwinden im Dorf einige Aufregung verursacht hatte, und bevor jetzt alle von ihrer Rückkehr erfuhren, hatte sie wenigstens zuerst zu Tante Inge und zu Jan gehen wollen. Sie trank einen Schluck Cola und widerstand der Versuchung noch einmal den Kopf zu wenden. Da näherten sich hinter ihr schon Schritte.

»Entschuldigen Sie bitte, aber Sie sehen aus wie …« Gabi trat an den Tisch. »Oh Gott! Marie, bist du das …?« Sie schlug eine Hand vor den Mund. »Ich dachte, du bist tot!«

Marie schüttelte den Kopf und setzte ein Lächeln auf. »Tot? Wie kommst du denn darauf? Schön, dich zu sehen.«

Gabi stand mit halboffenem Mund da, sah zum Tresen und wieder zu ihr. »Ich … wir …«

Damit war Maries Plan hinfällig geworden. Jetzt hieß es improvisieren. Gabis Finger legten sich auf die Lehne des vor ihr stehenden Stuhls, und sie schob ihn ein Stück nach vorn.

»Willst du dich nicht setzen?«, fragte Marie.

»Ich muss wieder zur Arbeit … Oh Mann! … Wollen wir uns heute Abend hier treffen? Gegen sechs?«

Sie tauschten ihre Handynummern aus und nachdem Gabi gegangen war, starrte Marie regungslos auf ihren Teller. Einen Moment lang war sie nicht in der Lage weiterzuessen. Das kurze Gespräch mit Gabi ließ alle alten Bilder in unerwarteter Klarheit in ihr aufsteigen.

Warum hatte sie damals nie den Mund aufgemacht? Weil alle Harm Petersen mochten. Weil Harm hilfsbereit war und lustig. Manchmal etwas leichtlebig vielleicht, aber na ja, wer hatte keine Fehler? Der Chef der lokalen Polizeistation tat so viel für das Dorf, war es da nicht verständlich, dass er hin und wieder die Früchte seines Tuns genießen wollte?

Und eine dieser Früchte war Marie gewesen. »Mir reicht es langsam mit deiner Engfotzigkeit«, hatte er wenige Wochen vor ihrem vorgetäuschten Tod gesagt und an ihrer Bluse gezerrt. Mit der tiefen Furche zwischen den Augenbrauen wirkte er da gar nicht mehr nett.

Warum sie damals als zwanzigjähriges Mädchen so naiv gewesen war, konnte sie sich rückblickend nicht mehr erklären. Wie Harm Petersen solche Macht über sie gewinnen konnte. Warum sie solche Angst vor ihm gehabt hatte. Damals hatte sie es offenbar für ganz normal gehalten, dass ein Mann mit einem Mädchen tun konnte, was er wollte.

»Du scheinst mich zu unterschätzen«, hatte er gesagt. »Glaub nicht, dass du einfach so aus Hazard wegziehen kannst. Du weißt wohl nicht, wie weit mein Arm reicht.«

Sie wischte sich den Mund mit der Serviette ab, knüllte sie zusammen, warf sie auf den Teller und schob ihn von sich. Nicht einmal ihrer Tante, die Marie nach dem Tod ihrer Eltern widerstrebend aufgenommen hatte, konnte Marie sich damals anvertrauen. Tante Inge hielt nicht viel von ihr. Von Harm Petersen dagegen war sie geradezu begeistert. Was für ein gut aussehender, toller Mann!

Ihre Tante hatte mehr als einmal erzählt, dass einige Jahre zuvor ein Mädchen – ein junges Ding mit mehr als zweifelhaftem Ruf – den Dorfpolizisten beschuldigt hatte, zudringlich geworden zu sein. Immer wenn sie davon erzählte, hatte Tante Inge mit den Augen gerollt.

»Da haben wir ihn natürlich alle verteidigt.«

 

Nach dem Essen ging Marie auf ihr Zimmer, legte sich aufs Bett und ruhte sich von der anstrengenden Autofahrt aus. Sie starrte an die gemusterte Tapete und versuchte sich zu erinnern, wie sie auf die Idee gekommen war, ihren Tod vorzutäuschen. Wahrscheinlich durch einen Film. Zwischen der Idee und der Ausführung hatten weniger als zwei Wochen gelegen.

Sie hatte ein Halstuch am Fluss liegen lassen. Falls alle denken würden, sie sei ertrunken, wäre sie vielleicht vor Harms Nachstellungen sicher. Sie hatte nicht mal Jan in ihren Plan eingeweiht. Aus Angst, er könne sich nach ihrem Verschwinden verplappern.

Jetzt freute sie sich darauf, ihn wiederzusehen. Das hatte sie sich mit den Jahren mehr und mehr gewünscht. Und dann hatte sie vor einigen Wochen bei Google zufällig gelesen, dass Harm Petersen bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen war.

Als sie wieder nach unten und durch die Gaststube ging, konnte sie feststellen, dass in Hazard die Buschtrommeln offenbar noch immer ausgezeichnet funktionierten. Doris, die Schwester von Philipp, und eine andere ehemalige Mitschülerin saßen mit einem Kaffee im Gastraum und starrten sie an. Marie nickte ihnen im Vorbeigehen wortlos zu.

Zu ihrer Tante ging Marie zu Fuß. Ein Gang durchs Dorf würde ihr jetzt gut tun. Die Birke an der Ecke Grenzweg und Dorfstraße war gefällt. Hier und da sah Marie im Vorbeigehen, wie sich Gardinen hinter den Fenstern bewegten. Sie spazierte quer über den neu gepflasterten Moszyba-Platz. Der Zeitungsladen neben der Bäckerei Stahmer war verschwunden. Stattdessen war da jetzt ein Handyladen.

Marie klingelte an der Tür des kleinen Reihenhauses, und Tante Inge öffnete so schnell, als hätte sie hinter der Tür gewartet. Für einen Augenblick stand ihre Tante starr.

»Ich konnte es nicht glauben«, sagte sie mit aufrichtiger Freude in der Stimme. »Du bist es tatsächlich.«

Ihre Tante umarmte sie, aber für Marie fühlte es sich nicht richtig an. 

»Na, dann komm mal erst mal rein. Ich hab ja immer gehofft, dass du …« Sie zuckte die Schultern. »Hattest ja immer deinen eigenen Kopf.«

Sie ging vor Marie her in die Küche. Marie hatte die Wohnung viel weniger vollgestellt in Erinnerung und heller. Sie setzte sich an den Küchentisch. Tante Inge lehnte mit dem Rücken an dem altmodischen Küchenbuffet. Ihre Augen irrten unstet hin und her.

»Ich hab ja gar nichts, was ich dir anbieten kann. Soll ich mal kurz zum Bäcker? Ist ja gleich um die Ecke.«

»Lass doch. Wir brauchen doch keinen Kuchen.«

»Wo warst du denn all die Jahre, Kind?« Tante Inge schüttelte den Kopf.

»Ich hatte mich verliebt. Sehr unglücklich verliebt. Und musste ein für alle Mal einen Schlussstrich darunter ziehen.«

Marie sah auf ihre Hände, die auf dem Tisch lagen. Mehr würde sie nicht sagen. Eine Weile schwiegen beide. Tante Inge kochte Kaffee und verteilte Tassen auf dem Tisch.

»Ich will nachher Jan besuchen«, brach Marie das Schweigen. »Weißt du, was er gerade macht? Wie es ihm geht?«

»Oh«, sagte ihre Tante. Sie nahm den Kaffeefilter von der Kanne. »Ach, das weißt du ja gar nicht.« Sie setzte sich Marie gegenüber an den Tisch, goss umständlich Kaffee in die Tassen und benetzte mit der Zunge die Lippen. »Jan … er ist … tot.«

»Was?«

Marie setzte die eben erhobene Kaffeetasse ruckartig ab. Ihr Rücken versteifte sich, und es kam ihr vor, als ob alle Wiedersehensfreude, die sie im Gasthof, in der Dorfstraße und beim Anblick der Bäckerei Stahmer verspürt hatte – als ob all dies von ihr ablief wie Wasser von einem imprägnierten Mantel.

»Ja … der ist einige Wochen, nachdem du weg warst … gestorben.«

»Gestorben? Und woran?« Sie hob ihre Tasse an, drehte sie in den Händen, und vor ihren Augen erschien das Bild von Jan, wie er am Fluss vor ihr hinspazierte und sich lachend zu ihr umdrehte. Dann hatte er, wenn sie in all den Jahren an ihn gedacht hatte, schon gar nicht mehr gelebt?

»Jans Mutter ist dann weggezogen.«

»Woran ist Jan gestorben, Tante Inge?«

Ihre Tante hob hilflos die Hände. »Ach, Kind. Das ist doch jetzt schon so lange her.«

»Was heißt das? Du kannst dich nicht mehr erinnern? Oder, du weißt es nicht? Oder, du weißt es, aber willst es mir nicht sagen?«

Tante Inge starrte eine Weile schweigend auf ihre Tasse. »Du wohnst im Gasthof?« Sie knetete die Finger ineinander. »Das ist gut. Bei mir kannst du nicht bleiben, Kind. Das schafft zu viel Unruhe.«

 

Am Nachmittag war Marie in ihrem Zimmer zurück. Hier in Hazard zu sein, fühlte sich plötzlich sinnlos an und nur noch beschwerlich. Ihr Handy zeigte eine SMS von Gabi: »Ich bin jetzt unten.« Sie fuhr sich vor dem Spiegel im Bad zwei-, dreimal mit der Bürste über die Haare. Wozu sollte sie sich überhaupt noch mit Gabi treffen?

Marie ging die Treppe zur Gaststube runter. Erst kurz bevor sie an ihnen vorbeiging, sah sie an einem Tisch die zwei Polizisten. Sie warteten offensichtlich auf sie.

»Frau Marie Schmidt? Hätten Sie ein paar Minuten Zeit für uns?«

»Ja, sicher.«

Marie bog ab zum Tresen und bestellte ein Bier und eine Frikadelle mit Brot. War das Vortäuschen des eigenen Todes eine Straftat? Jetzt bedauerte sie, sich nicht besser vorbereitet zu haben. Sie setzte sich zu den Polizisten an den Tisch und sah sie fragend an. Nicht zu viel reden, ermahnte sie sich.

Wie sie sich denken könne, ginge es um ihr Verschwinden vor zehn Jahren. Es gäbe da zur vollständigen Klärung des Sachverhalts noch ein paar Fragen. Sie würden die Akte dann endlich schließen können. Vor dem Polizisten, der sich als Sebastian Ehrbar vorgestellt hatte, lag ein Notizbuch. Marie wiederholte ihre Geschichte von ihrer angeblich unglücklichen Liebe.

»Können Sie uns dazu nähere Angaben machen?«

»Das ist privat.«

»Hm … Na gut. Und Ihr Halstuch? Wie kam das an den Fluss?«

»Ein Halstuch?«

Ihr Bier und die Frikadelle wurden gebracht und gaben Marie einen Moment Zeit zum Überlegen.

»Das weiß ich nicht. Das ist doch alles viel zu lange her. War das überhaupt meins?«

Der Polizist legte ein Halstuch auf den Tisch. Marie streckte die Hand aus und fuhr mit den Fingern darüber.

»Also das kann ich wirklich nicht sagen.« Sie hob die Schultern. »Vielleicht …« Sie trank einen Schluck Bier und wischte sich Schaum von den Lippen. »Darf ich Ihnen meinerseits auch eine Frage stellen?«

Der Polizist hob die Augenbrauen, und das deutete Marie als Einverständnis.

»Können Sie mir sagen, wie mein Freund Jan damals gestorben ist? Jan Westphal.«

»Damals war ich noch nicht im Dienst. Nach allem, was ich weiß, war es ein Unfall. Aber vielleicht auch Selbstmord. Seine Leiche wurde damals im Fluss gefunden. Mit 1,3 Promille Alkohol im Blut.«

Er sah seinen Kollegen fragend an, der hob wortlos die Schultern.

Wenige Minuten später saß Marie am Tisch bei ihrer Jugendfreundin Gabi und ließ sich von deren Fröhlichkeit überrumpeln. Gabi war noch immer genauso unkompliziert wie früher, und nach wenigen Minuten war das Eis gebrochen. Marie stellte alle Fragen zu Jan zurück, und die jungen Frauen schwelgten in gemeinsamen Erinnerungen, lachten über ihre Englischlehrerin mit der komischen Aussprache und über den Klassenausflug nach Helgoland, bei dem Toni und Phillip sich so sehr betrunken hatten.

Erst als Marie die Sache mit Harm Petersen andeutete und warum sie damals verschwunden war, verdrehte Gabi die Augen.

»Fängst du noch immer von den ollen Kamellen an?« Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Was ich einfach nicht verstehe: Wenn man aus einem Ort weggeht, sagt man doch irgendjemandem Bescheid. Hat Sebastian auch gesagt. Du hast ja …«

»Wer hat das gesagt?«

Gabi schwieg.

»Sebastian? Der Polizist? Du hast mit der Polizei über mich gesprochen?«

»Nicht als Polizist. Ich kenn den doch privat von der Feuerwehr.«

 

Gegen Mittag des nächsten Tages steuerte Marie auf die Bäckerei Stahmer zu. Bei einem Spaziergang durchs Dorf war ihr die Idee gekommen, ob es dort wohl noch ihre Lieblingskuchen gab. Sie betrat den Laden.

Die Kundin vor ihr, eine ältere Frau in einem verschlissenen hellen Kleid, zahlte gerade. Sie wandte sich zu Marie um, blieb abrupt stehen, und ihre Augen weiteten sich. Marie wollte um sie herumgehen, aber die Frau trat ihr in den Weg.

»Na, Sie trauen sich was. Hier in Hazard alles auf den Kopf zu stellen.«

Sie reckte Marie das Kinn entgegen. Marie wich ihr aus und trat an den Tresen. Sie deutete auf ein Stück Erdbeerkuchen in der Auslage.

»Das Stück Kuchen dort, bitte. Zum Mitnehmen.«

Die Verkäuferin sah der Kundin nach, die vor sich hingrummelnd den Laden verließ, sah zu zwei Männern, die an einem Stehtisch in der Ecke ihren Kaffee tranken und sagte leise: »Sind Sie die junge Frau, die damals verschwand?«

Marie nickte.

»Vielleicht kann ich Ihnen ein paar Fragen beantworten.« Sie deutete mit dem Kopf zu dem großen Fenster, das zur Straße ging. »Ich habe meinen Wagen auf dem Moszyba-Platz geparkt. Ein hellgrüner Lupo. Sie warf einen Blick auf die Armbanduhr. Um fünfzehn Uhr endet meine Schicht. Kommen Sie dort hin.«

Der Wagen der Bäckerin war leicht zu finden. Wenige Schritte entfernt am Rande des Platzes stand eine Bank im Schatten von Ahornbäumen. Marie setzte sich und packte den Kuchen aus. Was, um Himmels Willen, stellte sie denn auf den Kopf?

Ihr Handy klingelte.

»Ja?«

»Spreche ich mit Marie Schmidt?« Die Stimme klang merkwürdig gedämpft.

»Ja. Mit wem spreche ich denn, bitte?«

»Hör mal zu Mädchen: Es gibt hier einige Leute im Dorf, die wären dir sehr verbunden – ganz außerordentlich verbunden sogar, wenn du aufhören würdest, dämliche Fragen zu stellen.«

»Wenn ich … was …?«

»Irgend ‘ne blöde Schnepfe, die Scheißfragen stellt, können wir hier nämlich überhaupt nicht gebrauchen.«

Maries Atem stockte.

»Ist das mal klar?«

Sie drückte den Ausknopf, warf das Handy neben sich auf die Bank und starrte darauf, als wäre es eine giftige Schlange. Ihr Herz klopfte heftig. Was hatte sie denn getan?

Sie hatte am Morgen nach dem Frühstück die Wirtin und einen Handwerker, der am Tresen seinen Kaffee trank, wegen Jan befragt. »Das Dorf ist ganz schön aus dem Häuschen über Ihre Auferstehung von den Toten«, hatte die Wirtin dabei gesagt. Und jetzt fiel Marie ein, dass sie eben auf dem Weg zur Bäckerei in der Dorfstraße Herrn Kochoy getroffen hatte, ihren damaligen Kunstlehrer. Nach kurzem Hallo hatte sie auch ihn auf Jan angesprochen. Herr Kochoy war von einem Bein aufs andere getreten und ihrem Blick ausgewichen. Alle hätten damals geglaubt, sagte er mit gesenkter Stimme, dass Jan unter der Last seine schlechten Gewissens zusammengebrochen sei. Seinen offensichtlichen Selbstmord hatten sie als Schuldeingeständnis gewertet. Marie aß ihren Kuchen, und ihr Herz klopfte noch immer.

Die Bäckerin kam um kurz nach drei. Sie war eine gedrungene Frau in der Vierzigern mit einem groben, aber nicht unhübschen Gesicht. Marie hatte beschlossen, ihr nichts von dem Anruf eben zu erzählen. Während der Fahrt zum Fluss stellte die Frau sich Marie als Silke vor. Sie und Marie setzten sich ins hohe Gras der Uferböschung. Silke wühlte ein Päckchen Tabak aus ihrer Umhängetasche und drehte sich eine Zigarette.

»Sie müssen wissen, Marie, ich komme aus dem Nachbardorf, habe also die Ereignisse vor zehn Jahren nicht selbst erlebt. Ich weiß Einiges von meinem Bruder, der damals hier in Hazard gewohnt hat. Aber das meiste habe ich später in der Bäckerei aufgeschnappt.«

Sie zündete ihre Zigarette an und nahm ein paar Züge.

»Als Sie damals verschwunden sind, kam schnell der Verdacht auf, Sie seien ermordet worden. Die Dorfbewohner haben von dem jungen Mann und Ihnen ja immer als den ›komischen Verrückten‹ gesprochen. Aber ansonsten ignorierten sie Sie. So lange, bis Sie, Marie, eines Tages verschwanden. Am nächsten Morgen kam die Polizei zu Jans Mutter und nahm ihn zu einem Verhör mit. Auch wenn er immer wieder schwor, er hätte Sie am Fluss zurückgelassen, sie haben ihn durch die Mangel gedreht, bis es für ihn keinen Ausweg mehr gab.«

»Und dann hat er Selbstmord gemacht?«

Silke lachte freudlos. »Selbstmord? Ja … so sagt man.«

»Was heißt das?«

Sie sah lange auf den Fluss. »Das heißt: Vielleicht gab es eine Art Selbstjustiz. Zwei, drei Dutzend Dorfbewohner haben sich wenige Tage nach Ihrem Verschwinden vorm Haus seiner Mutter zusammengerottet. Es gab Anzeichen für eine Gewalttat, denen aber nicht nachgegangen wurde.«

»Mord? Was für Anzeichen?«

»Mord, Totschlag … keine Ahnung.«

Ein Mann mit einem Hund kam oben auf dem Weg, der am Fluss entlangführte. Die Bäckerin nahm Marie am Arm und duckte sich ins hohe Gras.

»Lassen Sie uns in Deckung gehen. Wir sollten nicht unbedingt zusammen gesehen werden.«

Der Mann ging vorbei, ohne sie zu beachten. Silke sah ihm nach.

»Wie gesagt, was ich weiß, sind alles nur Bruchstücke. Es gab damals einen jungen Mann, der wohl sehr in Sie, Marie, verliebt war. Wenn ich recht informiert bin, sollen Sie auch ein paar Monate mit ihm zusammengewesen sein. Seinen Namen hab ich vergessen.«

»Philipp?«

»Hm … kann sein. Da gab es ja auch noch eine gute Freundin von Ihnen: Gabi. Die wollte unbedingt rausfinden, was mit Ihnen passiert war. Mein Mann hat mir erzählt, sie hätte diesen ­– ja, ich glaube, er hieß Philipp – angestachelt, Jan eine Lektion zu erteilen.«

»Und war das vor oder nachdem der Mob da vor Jans Haus war?«

»Die zeitlichen Zusammenhänge weiß ich nicht mehr. Auf alle Fälle haben sich die Leute gegenseitig immer weiter hochgeputscht.« Sie nahm eine Dose aus ihrer Tasche, drückte die Zigarette aus und verstaute die Kippe darin. »Philipp und ein paar Jungs wollten dann die Wahrheit aus Jan rausprügeln. Zwei, drei Tage später lag Jan ertrunken im Fluss. Er hatte blaue Flecken, von denen die Polizei aber behauptete, sie seien von der Prügelei zwei Tage zuvor. Sie ist der Sache jedenfalls nur halbherzig nachgegangen. «

Als Marie einige Stunden später im Gasthof zu Abend aß, dachte sie noch immer über das Gespräch mit Silke nach. Sie saß wie gewohnt auf ihrem Platz in der Ecke mit dem Rücken zum Tresen. Das Lokal füllte sich nach und nach. Silke hatte gesagt, dass damals immer wieder die Rede davon gewesen war, Jan sei geistig minderbemittelt war, irgendwie abnormal, auf jeden Fall komisch.

Gedankenverloren biss Marie in ihr Käsebrot. Auch sie selbst hatte manchmal überlegt, ob Jan eine leichte geistige Behinderung hätte. Aber sie hatte ihn nie darauf angesprochen. Er war einfach ein liebenswerter junger Mann. Es spielte keine Rolle.

»Miss Marple ist auch da«, sagte jemand hinter ihr.

»Von mir aus sollte sie schnell wieder verschwinden.«

Erst jetzt wurde Marie bewusst, dass schon seit einer Weile hinter ihr getuschelt wurde. Aber sie hatte es nicht auf sich bezogen. Eine Frau auf dem Weg zur Toilette verhielt im Schritt und warf Marie einen langen provozierenden Blick zu. Sollte sie das ignorieren? Sie aß langsam weiter.

»Was heißt hier ›Lass sie doch‹?«, sagte jetzt ein Mann noch lauter. »Sie löst sich einfach in Luft auf, und nach Jahren taucht die junge Dame mir nichts dir nichts wieder hier auf und bequemt sich nicht einmal eine Erklärung dafür abzugeben.«

Maries Herz pochte. Sie legte die Hand auf die Tischplatte und stemmte sich hoch, zwang sich, sich umzudrehen und stellte sich mit weichen Knien in die Mitte des Gastraums.

»Wenn Sie mir was zu sagen haben, dann sagen Sie mir das bitte ins Gesicht.«

Sofort richteten sich alle Blicke auf sie. Sie wich ihnen nicht aus.

»Wegen dir ist das doch alles damals passiert«, rief eine Frau von hinten.

»Deine angebliche Liebesaffäre, was soll das überhaupt gewesen sein?«

Davon hatten sie gehört?, dachte Marie verblüfft. »Das ist ja wohl meine Privatsache.«

»Wie man hört, hattest du damals ein Auge auf unseren Dorfpolizisten geworfen.« Das war die Stimme eines Mannes.

Das verschlug Marie für einige Sekunden die Sprache. Während sie der Drang überwältigte, mit der Wahrheit über Harm Petersen herauszuplatzen, und sie schon dafür Luft holte, öffnete sich die Tür. Ein junger Mann ihres Alters trat herein. An seinem schmalen Gesicht und dem markanten Kinn erkannte sie ihn sofort: Philipp blieb abrupt stehen, sah zu Marie, sah zu einem freien Tisch beim Eingang, sah wieder zu ihr. Eine Frau und zwei Mädchen im Grundschulalter folgten ihm – vermutlich Philipps Familie. Er ergriff eines der Mädchen am Arm und steuerte auf den freien Tisch zu.

»Dass Jans toter Körper überall blaue Flecken aufwies, habt ihr davon gewusst?«, rief Marie so laut, dass auch Philipp es unbedingt hören musste.

»Was wärmst du überhaupt diese alten Geschichten wieder auf?«

»Habt ihr davon gewusst?«

Beim Tresen erhob sich jemand, und an ihrem verschlissenen Kleid erkannte Marie die Kundin aus der Bäckerei. »Wie konntest du damals einfach so verschwinden und damit das ganze Dorf durcheinanderbringen?«

»Und jetzt kommst du«, rief eine Frau von der anderen Seite mit verbitterter Stimme, »als wenn nichts gewesen wäre, und bringst wieder Unruhe hier rein. Hatten wir nicht schon genug auszustehen?«

Die Wirtin trat neben Marie und hob die Hände.

»Jetzt beruhigen sich mal alle wieder. Das ist hier eine Gaststube und kein Diskussionsforum. Trudchen, setz dich wieder hin.« Sie wandte sich Marie zu. »Sie bitte auch, Marie.«

Maries Handy klingelte.

Während die Wirtin hinter den Tresen zurückging und kurz darauf halblaute Musik die immer noch aufgeregten Stimmen verschluckte, drehte Marie sich zögernd um und kehrte an ihren Tisch zurück.

»Ach, jetzt haust du ab, was?«, rief ein Mann ihr nach, als sie wenige Minuten später hinausging.

Es dämmerte bereits, und Marie war froh, einen Grund gehabt zu haben, das Gasthaus zu verlassen. Sie fand Gabi am Fluss. Sie saß im Ufergras. Vier Flaschen Bier lagen zu ihren Füßen.

»Die haben dir ja wohl ganz schön zugesetzt. Manchmal können die echt Idioten sein.«

»Ich hab dich in der Gaststube gar nicht gesehen.«

Gabi zog ein Feuerzeug aus der Tasche, machte damit zwei Bierflaschen auf und reichte Marie eine davon.

»Heidi, die Wirtin, hat mich angerufen. Ich sollte dich da rauslotsen.«

Die untergehende Sonne glänzte im Fluss. Sie stießen mit den Flaschen an.

»Jemand hat Philipp aufgewiegelt«, sagte Marie, »er solle aus Jan rauskriegen, was der angeblich mit mir gemacht hat. Warst du das, Gabi?«

»Ich wollte rausfinden, was mit dir passiert ist. Du warst meine beste Freundin. Jetzt lass mich mal bitte schön aus dem Spiel.«

Am anderen Ufer quakten Enten. Marie hatte vergessen, wie schön es hier war. Sie trank die Hälfte ihres Bieres in einem Zug aus.

»Mich hat vorhin jemand angerufen und ganz übel beschimpft.«

Gabi sah mit gerunzelter Stirn vor sich hin.

»Und die Einzige, der ich hier meine Nummer gegeben hab, bist du.«

Jetzt wich Gabis unwillige Miene einem erschrockenen Gesichtsausdruck.

»Ich hab deine Telefonnummer nicht weitergegeben«, sagte sie und sah Marie an. »Das musst du mir glauben.«

So, muss ich das? Marie bedachte Gabi mit einem misstrauischen Blick. Sie sah ehrlich bestürzt aus. Wenn sie log, war sie jedenfalls eine erstklassige Schauspielerin.

»Das musst du mir glauben«, wiederholte sie geradezu flehentlich. »Ich dämliche … Ich lass mein Handy ständig überall offen rumliegen.«

»Gut! Dann erzähl ich dir jetzt was. Und du hältst mal schön die Klappe und unterbrichst mich nicht, von wegen olle Kamellen, kapiert?«

Marie holte tief Luft und erzählte, wie Petersen damals mit Komplimenten begonnen hatte. Wie sie ihn dann immer öfter zufällig traf. Wie er angefangen hatte, sie anzufassen, und schließlich dauernd von seinem ach so tollen Schwanz gefaselt hatte. Gabis Augen wurden größer und größer.

»Wirklich so schlimm?«

Marie nickte.

»Ach, Mann …«

Gabi ließ schwer die Luft ausströmen. Sie starrte aufs Wasser und drehte schweigend ihre Bierflasche in den Händen. »Ach, Mann …« Sie wandte Marie das Gesicht zu und legte ihr eine Hand auf den Rücken. »Tut mir leid.« Sie presste die Lippen aufeinander. »Ich hab mich damals manchmal schon gefragt, warum Harm so verbissen hinter Jan her war. Aber ich war so traurig, weil ich dachte, dass du tot bist. Jetzt ergibt das Sinn. Harm Petersen dachte, dass ihm von Jan sein Besitz weggenommen worden war. Darum wollte er Jan unbedingt büßen lassen. Ich hab in diesen Tagen mal mitbekommen, wie Petersen und Philipp über Jan gesprochen haben. Und wie sehr Petersen Philipp dabei bedrängt hat. ›Vom Gesetz her kann man gegen solche Typen nichts machen‹, hat er gesagt. ›Die bleiben dann auf freiem Fuß.‹ Und jetzt fällt mir wieder Bauer Thomsen ein. Der ist ja auch schon lange tot. Der ist damals im Gasthof aufgestanden und hat gerufen: ›Wollen wir das einfach so hinnehmen, dass hier im Dorf einer ein Mädchen umbringt und dann weiter frei rumläuft, als wär nichts passiert?‹«

»Einerseits bin ich froh«, sagte Marie, »halbwegs zu verstehen, was damals wohl abgelaufen ist …«

Aber Jans Mutter war fort. Also wer hatte jetzt was davon? Marie spürte, wie sehr die letzten beiden Tage sie ausgelaugt hatten. Sie ließ sich von Gabi eine zweite Bierflasche öffnen. Der Fluss plätscherte leise vor sich hin.

 

Bevor Marie am folgenden Morgen Hazard sang- und klanglos verließ, fuhr sie auf die Tankstelle am Ende des Dorfes. Sie tankte und zahlte. Als sie zum Wagen zurückging, musste sie gähnen. Dabei hatte sie zu dem schnellen Frühstück im Gasthof zwei Tassen Kaffee getrunken. Sie stieg ein, und ihr Blick fiel auf das große Stück Pappe, das vorhin hinterm Scheibenwischer geklemmt hatte.

»VERPISS DICH!!!«, stand in ungelenken Buchstaben darauf.

Sie hatte eben den Motor angelassen, da klopfte es an die Scheibe. Eine etwa fünfzigjährige Frau stand neben dem Wagen. Marie kurbelte die Scheibe runter.

»Wir haben uns alle nichts vorzuwerfen«, sagte die Frau und schnaubte. »Du bist schuld!«

Sie nickte zur Bekräftigung, drehte sich um und ging. Marie ließ das Fenster offen. Sie hob die Augenbrauen und sah der Frau nach. Sie ließ die Kupplung kommen, fuhr von der Tankstelle runter und aus Hazard hinaus.

 

Hazard – Richard Marx

 

My mother came to Hazard when I was just seven

Even then the folks in town said with prejudiced eyes

That boy’s not right

Three years ago when I came to know Mary

First time that someone looked beyond the rumors and lies

And saw the man inside

 

We used to walk down by the river

She loved to watch the sun go down

We used to walk along the river

And dream our way out of this town

 

No one understood what I felt for Mary

No one cared until the night she went out walking alone

And never came home

Man with a badge came knocking next morning

Here was I surrounded by a thousand fingers suddenly

Pointed right at me

 

I swear I left her by the river

I swear I left her safe and sound

I need to make it to the river

And leave this old Nebraska town

 

I think about my life gone by

How it’s done me wrong

There’s no escape for me this time

All of my rescues are gone, long gone

Kommentar schreiben